23/05/2025
Teil 1
Jörg (1)
Teil 1 (Raumverwaltung und Grenzen)
Jörg lag zusammengerollt in seinem Körbchen. Die Sonne tastete sich vorsichtig durchs Fenster, aber er fühlte keine Freude darüber. Es war einer dieser Tage, an denen ihm das Aufstehen schwerfiel. Dabei war das sonst ganz anders. Normalerweise war er einer der Hunde, die bei den ersten Geräuschen im Haus sofort auf den Beinen standen, bereit, den Tag mit offenen Sinnen zu begrüßen. Doch in letzter Zeit war da etwas in ihm, das ihn bremste. Eine Schwere, die er nicht verstand.
Er hob langsam den Kopf, als sein Mensch in die Küche ging. Der vertraute Klang der Näpfe ließ kurz seine Rute zucken. Futter bedeutete immer noch etwas Gutes, etwas Vertrautes. Er trottete hin, fraß ruhig, bedacht, ohne Hast. Sein Herz war nicht unruhig, es war vorsichtig geworden.
Nach dem Fressen setzte er sich neben seinen Menschen. Das war alles, was er wollte – in der Nähe sein. Spüren, dass da jemand war, bei dem er sich sicher fühlen konnte. Nähe bedeutete für ihn alles. Es war nicht wichtig, wer „führte“ oder wer wohin zuerst ging. Er suchte keinen Rang, keinen Raum, den er einnehmen wollte. Er wollte einfach nur dazugehören. Still, freundlich, loyal.
Doch heute war wieder einer dieser Tage. Der Tag, an dem es zur Hundeschule ging.
Jörg wusste inzwischen, was das bedeutete. Nicht durch Worte – Worte verstand er nur im Klang – sondern durch Stimmungen, durch Haltungen, durch Blicke. Die Stimmung seines Menschen war anders, sobald sie sich dem Platz näherten. Angespannter. Erwartungsvoller. Und auch Jörg veränderte sich dadurch. Er wurde langsamer, vorsichtiger. Nicht, weil er ungehorsam sein wollte, sondern weil er nicht verstand, was man von ihm wollte.
Die Frau war wieder da. Die mit der festen Stimme und den vielen Begriffen. „Raum verwalten“, „Grenzen setzen“, „Führung übernehmen“. Jörg wusste nicht, was das bedeuten sollte. Er fühlte sich nie als jemand, der irgendetwas an sich reißen wollte. Er war kein Rudelanführer. Kein Draufgänger. Er war einfach nur Jörg.
Sie begannen die Übung, bei der er an der Leine laufen sollte. Er durfte nicht zu nah an seinem Menschen sein, aber auch nicht zu weit weg. Wenn er zu nah kam, wurde er blockiert. Wenn er stehen blieb, wurde er geruckt. Wenn er schnuppern wollte, wurde er weggelenkt. Alles, was für ihn normal war – schnüffeln, bei seinem Menschen sein, sich einfach frei bewegen – wurde plötzlich zu etwas Falschem erklärt. Er verstand es nicht. Und mit jedem Versuch, „es richtig zu machen“, wurde seine Unsicherheit größer.
Die Trainerin stellte sich ihm mehrfach in den Weg. Einfach so. Er ging ruhig, langsam, in gemäßigtem Tempo – und plötzlich stand jemand vor ihm. Nicht unfreundlich vielleicht, aber bestimmt. Jörg erschrak jedes Mal. Nicht, weil er Angst vor ihr hatte, sondern weil er nicht wusste, warum. Warum sie das tat. Warum es falsch war, einfach nur zu gehen. Ihm wurde ein Ziel genommen, das er gar nicht hatte.
Er wollte nicht „etwas erreichen“, er wollte einfach nur folgen.
Nach einigen Versuchen wich er zurück. Blieb von sich aus weiter hinten. Er wollte niemandem zu nah kommen, nichts falsch machen. Aber auch das schien nicht richtig zu sein. Wieder ein Ruck an der Leine, diesmal schärfer. Ein stechendes Ziehen am Hals, das sich bis in seinen Rücken fortsetzte. Jörg zuckte zusammen. Nicht vor Schmerz, sondern vor der Verwirrung, die ihn innerlich auffraß. Was sollte er tun? Wo durfte er sein? Was war gewünscht?
Er wusste es nicht mehr.
Nach der Stunde ging es wieder nach Hause. Sein Mensch sprach mit ihm, streichelte ihn sogar. Und Jörg? Jörg versuchte zu reagieren. Er wedelte schwach mit der Rute, legte sich später wieder in sein Körbchen. Doch etwas war anders geworden. Etwas in ihm hatte sich zurückgezogen. Die Welt war für ihn nicht mehr sicher. Nicht mehr weich. Er wollte sich verstecken, wollte sich auflösen. Nicht, weil ihm jemand Gewalt antat – sondern weil er sich selbst nicht mehr verstand. Weil er merkte, dass alles, was in ihm war – seine Impulse, seine Nähebedürfnisse, seine Art – nicht richtig zu sein schien.
Er drehte sich im Körbchen auf die Seite, schloss langsam die Augen. Schlaf kam nicht. Nur Gedanken. Oder das, was man bei Hunden Gedanken nennt. Bilder, Gefühle, flüchtige Ahnungen. Er erinnerte sich an frühere Tage. Als alles einfach war. Als sein Mensch ihn streichelte, ohne dass es um Training ging. Als er beim Spaziergang schnuppern durfte, einfach so. Als sein Herz noch leicht war und nicht so schwer wie heute.
Er hoffte, dass es wieder so werden würde. Dass sein Mensch irgendwann verstehen würde, dass Jörg keine Grenzen testen will. Keine Räume einnehmen. Dass er einfach nur Hund sein will. Jörg sein will.
Ein Hund, der niemandem etwas wegnehmen möchte. Nur Nähe sucht. Sicherheit. Frieden.
Jörgs Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Teil 2 und Teil 3 kommen bald…