26/11/2025
🐾 Erziehen oder verstehen – vom Gegeneinander zum Miteinander
Wenn ein Hund ins Leben eines Menschen tritt, ist die gute Absicht meist da: „Ich will alles richtig machen.“
Doch schnell heisst es dann, der Hund müsse „gut erzogen“ sein – möglichst früh, möglichst konsequent, am besten „gleich von Anfang an wissen, wer der Chef ist“. Diese Haltung hält sich hartnäckig – und hat ihre Wurzeln in alten Vorstellungen von Rangordnung und Gehorsam. Der Hund soll funktionieren, sich anpassen, sich „benehmen“. Doch die Idee, dass Erziehung vor allem Kontrolle bedeutet, greift zu kurz.
Denkweisen, die schon lange wissenschaftlich widerlegt sind, werden noch immer weitergegeben – von Trainer zu Trainer, von Halter zu Halter.�Und so erziehen auch heute noch viele Menschen „wie man es halt schon immer gemacht hat“ – aus Gewohnheit, aus Halbwissen oder weil es auf den ersten Blick „funktioniert“. Besonders bei grossen, imposanten Rassen hält sich der Gedanke, man müsse „stärker“ sein als der Hund – schliesslich waren unsere Hunde doch noch vor wenigen Generationen wildlebende Wölfe! Ist das so? �
Unsere heutigen Hunde sind keine Wölfe mehr. Sie sind über Jahrtausende auf Kooperation, Kommunikation und Nähe zum Menschen gezüchtet worden. Ihr Verhalten folgt heute anderen Regeln, ihre Bedürfnisse sind andere – und sie haben sich hervorragend an das Leben mit dem Menschen angepasst. Wer Hunde noch immer wie Wölfe behandelt, verkennt nicht nur ihre Entwicklung – er verpasst auch die Chance, sie wirklich als Sozialpartner zu verstehen und zu akzeptieren.
Hunde sind hochsoziale Lebewesen, deren Verhalten tief von Emotionen, Bedürfnissen und innerer Sicherheit geprägt ist. Was sie tun, tun sie nicht, um uns „zu ärgern“ oder „die Grenzen auszutesten“ – sie reagieren auf ihr Umfeld, auf Stimmungen, auf die Klarheit (oder Unklarheit) unserer Signale. In ihrem Innern wirkt ein fein abgestimmtes System aus Emotion, Motivation und Erfahrung. Lernen bedeutet für sie nicht, Befehle auszuführen, sondern Zusammenhänge zu verstehen: Was bringt mir Sicherheit? Was vermeide ich besser? Was lohnt sich für mich? Was macht Sinn in meinem sozialen Gefüge? Wenn wir also „erziehen“, ohne zu verstehen, was im Hund vorgeht, formen wir Verhalten – aber keine Beziehung. Verstehen heisst, den Hund nicht nur zu sehen, sondern ihn wahrzunehmen: seine Körpersprache, seine Reaktionen, seine Geschichte.
Es bedeutet, zu erkennen, dass Verhalten immer ein Ausdruck eines inneren Zustands ist – nicht einfach eine „Absicht“. Und dass nachhaltiges Lernen nur dort entstehen kann, wo sich das Nervensystem sicher fühlt.
Aus neurobiologischer Sicht ist das kein esoterischer Gedanke, sondern Grundlage von Lernfähigkeit: Ein Hund, der sich bedroht oder unter Druck fühlt, schaltet in Stressreaktionen. Der präfrontale Kortex – jener Teil des Gehirns, der für Denken, Planen und Lernen zuständig ist – wird dabei gehemmt. Was bleibt, ist Überleben: Flucht, Angriff, Erstarren. Wer Druck erzeugt, erreicht vielleicht „gehorsames Verhalten“ – aber zum Preis von Angst, Unterdrückung oder innerem Rückzug. Manche Hunde werden aggressiv, andere geben auf. Doch kein Hund lernt dabei Vertrauen.
„Verstehen“ heisst allerdings auch nicht grenzenloses Laufenlassen. Es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Hunde brauchen Orientierung, Halt und manchmal auch klare Strukturen – aber solche, die führen, nicht unterdrücken. Jeder Hund bringt unterschiedliche Voraussetzungen mit: genetisch, charakterlich, emotional. Der eine braucht viel Anleitung und klare Führung, der andere Sicherheit auf Distanz und die Möglichkeit, selbst Lösungen zu finden. Positives, bedürfnisorientiertes Arbeiten heisst deshalb nicht: ein Schema X anwenden. Es heisst, zuhören, hinschauen, anpassen. Es verlangt vom Menschen Empathie – aber auch Wissen, Selbstreflexion und Konsequenz. Denn der Hund kann immer nur so gut lernen, wie der Mensch bereit ist, sich selbst zu verändern.
Wer verstehen will, muss sich selbst kennen: die eigenen Erwartungen, das Bedürfnis nach Kontrolle oder Harmonie, den Umgang mit Frust, Geduld und Unsicherheit. Ein Hund spürt unsere innere Haltung, lange bevor wir sprechen. Unsere Emotionen, unser Körper, unsere Energie sind Teil seiner Lernumgebung. Darum liegt der Schlüssel zum Erfolg nie nur beim Hund – sondern in uns. Hunde sind Spiegel unserer inneren Zustände. Wer bereit ist, wirklich hinzuschauen, kann durch keinen anderen Lehrer so viel über sich selbst lernen. Aber das erfordert Mut: den Mut, das eigene Denken zu hinterfragen und den Weg des Verstehens zu wählen – auch wenn er länger dauert, leiser ist, manchmal unbequem.
Denn wahre Veränderung beginnt nicht im Hund – sie beginnt im Menschen.
Schon vor rund 100 Jahren sagte Viktor E. Frankl, österreichischer Neurologe und Psychiater:
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.“
Vielleicht geht es in der modernen Hundeerziehung gar nicht mehr um das Entweder-oder – Erziehen oder Verstehen – sondern darum, beides zu verbinden: Wissen und Gefühl, Struktur und Freiheit, Leitung und Vertrauen.
Denn wahre Beziehung entsteht dort, wo beide Seiten lernen dürfen.
S.G.