10/10/2024
Die Dominanztheorie
Sehr viele Menschen verfolgen sie bei der Arbeit mit dem Pferd noch immer. Man müsse das Pferd dominieren und das „Alphatier“ in der Zweierherde Mensch-Pferd sein. Das Pferd solle sich dabei unterwerfen und Folge leisten. Die Internationale Gesellschaft für Pferdewissenschaften ISES (International Society for Equitation Science) hat diese Theorie durch ausführliche Forschungsarbeiten jedoch längst widerlegt. Unter der Leitung von Prof. Jan Ladewig von der Universität Kopenhagen stellte man fest, dass diese Theorie der festen Hierarchie nur eine Übertragung zwischenmenschlicher Kategorien auf das Pferd ist. = Vermenschlichung.
Das Sozialverhalten unserer Pferde ist vielschichtiger und facettenreicher. In freier Wildbahn braucht die Herde verschiedene Talente, um überleben zu können. Auf Basis der individuellen Fähigkeiten werden die nötigen Aufgaben verteilt. Besonders aufmerksame Pferde mit schnellen Reaktionen sind eher „Aufpasser“ als trägere Exemplare. Pferde sind naturgemäß schlecht darin, abstrakt zu denken. Sie verfolgen keine Gedanken wie: „Ich bin jetzt der Boss, ich verarsche den Menschen jetzt, ich provoziere ihn.“ Pferde tun zwar nichts ohne einen Grund, jedoch ist alles was ein Pferd (oder auch Kind) tut, eine Handlung FÜR sich und nicht GEGEN andere.
Das menschliche Bestreben nach Respekt oder Autorität auf das Pferd zu projizieren, schädigt die Beziehung und das Vertrauen zwischen Raubtier Mensch und Fluchttier Pferd. Eine dominante Grundhaltung gegenüber dem Pferd, führt zu Rechtfertigung von Bestrafungen. Mit Ausnahme von Gefahrensituationen sind diese im regulären Training nicht zu rechtfertigen…und doch passieren sie uns allen. Weil wir mit dieser Denkweise und Haltung dem Pferd gegenüber Reiten lernen. Auf Aggression reagieren Pferde ausweichend und es kommt langfristig zum Vertrauens- und Motivationsverlust.
Zusammenfassung der Studienergebnisse: „Dominanz-Hierarchien, Alpha-Positionen oder Führerschaft in sozialen Pferdegruppen sind menschliche Konzepte, die nicht die Basis der Mensch-Pferd-Interaktion bilden sollten. Pferde sind soziale Tiere, die hauptsächlich auf Basis einer zweiseitigen Beziehung interagieren, d. h. jedes Pferd hat eine individuelle Beziehung zu jedem anderen Pferd der Gruppe – und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie darüber hinaus eine übergeordnete Rangordnung kennen, die sämtliche Mitglieder der Gruppe einschließt. Während ältere oder erfahrene Pferde ihren angestammten Platz in der Gruppe kennen und häufiger als jüngere, unerfahrene Pferde ihre Kameraden zu Orten führen können, wo Nahrung, Wasser und Schutz verfügbar sind, gibt es derzeit keine soliden Beweise für eine Art, Führerschaft', die bestimmten Individuen innerhalb der Gruppe vorbehalten wäre."
Für mich persönlich sollte die Arbeit mit dem Pferd auf gegenseitigem Vertrauen basieren. Sowohl der Mensch muss in gewissen Rahmen den Raum des Pferdes wahren wie auch das Pferd den Raum des Menschen. Vorhersehbar Handeln und nicht resultierend aus schlechter Laune unfair werden ist in meinen Augen eine besondere Herausforderung im Umgang mit unseren Pferden (oder Kindern) welche negative Emotionen automatisch auf sich selbst beziehen.
In meinen Augen haben Pferde oft zu wenig Mitspracherecht und keine Rücksicht auf ihre Befindlichkeit. Auf fehlenden Gehorsam oder Unwillen beim Reiten folgen harte Hilfen und Strafen des Reiters mit Gerte und Sporen. Ein Fluchttier mit Angst vor Strafe zu trainieren, schafft keinen verlässlichen Partner, sondern unberechenbaren Kadavergehorsam resultierend aus erlernter Hilflosigkeit. Jeder der hier Argumentiert man könne sein Pferd nicht zum Grand Prix streicheln und in Pferdeherden ginge es auch rau oder noch rauer zu, hat leider überhaupt nichts verstanden.
In der Natur und auch in der Herde unserer Hauspferde vermeiden Pferde Konflikte eher und reagieren bei genügend Platzangebot mit ausweichen. Kleine Gesten reichen in einer beständigen Herde als Kommunikation aus und andere Pferde, wenn gewollt auf Abstand zu halten. Das spart sehr viel Energie, welche in Fluchtsituationen das Überleben sichert.
Im Paper heißt es weiter: „Trainer, Reiter und Halter müssen daher anstreben, zu ihren Pferden eine eindeutige und konsistente Beziehung aufzubauen, um deren Wohl sicherzustellen. Sie sollten sich stets der möglichen Auswirkungen jenes Konzepts bewusst sein, auf dessen Basis sie ihr Training und ihre Beziehung zum Pferd gestalten."
Quelle: https://equitationscience.com/equitation/position-statement-on-the-use-misuse-of-leadership-and-dominance-concepts-in-horse-training
Meine steile These: Es gibt keine dominanten Pferde. lt. Duden bedeutet dominant beispielsweise bestimmend/führend oder sich gegen andere durchsetzend. In der Psychologie spricht man bei Dominanz von einem „Individuum/Gruppe welche gegenüber einem anderen Individuum/Gruppe einen höheren sozialen Status innehat. Letztere reagieren mit Unterwürfigkeit. Außerdem spricht man von einem selbstbewussten Auftreten und davon, dass Entscheidungen übernommen werden. Ein Pferd passt sein Verhalten häufig der Herde, dem Umgang mit ihm und seinen Vorerfahrungen an. In einer Herde kann es besonders ranghoch sein, während es in einer anderen Konstellation deutlich devoter ist. Viele Reiter bezeichnen ihre Pferde gerne als dominant, obwohl das Pferd nicht in hierarchischen Mustern denkt oder denken kann. Gerne werden diese Pferde auch als Charakterpferd bezeichnet, zu welchem ich allerdings jedes Pferd zähle. Alle Pferde haben wie wir Menschen einen Charakter. Manche fassen schnell vertrauen, andere sehr langsam. Manche Pferde verzeihen Fehler ohne Folgen, andere nicht. Manche Pferde können ihre Vergangenheit schnell überwinden, andere schaffen es nie. Manche Pferde reagieren beschwichtigend auf (unfaire) Strafen, andere setzen zum Angriff an. Das macht die jeweils zuletzt genannten Pferde aber weder dominant noch zu einem Charakterpferd. Es sollten sich also eher die Menschen in ihrem Handeln und Verhalten dem Pferd gegenüber hinterfragen, die diesem Eigenschaften geben wollen, die es naturgemäß nicht haben kann.